Zur Rezeption des EuGH-Urteils in der Rechtssache Ince
(Martin Reeckmann) Im deutschen Glücksspielwesen ist spätestens seit dem Sportwetten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 ein wiederkehrender Effekt zu besichtigen, der stets wie ein Ritual anmutet: Binnen weniger Stunden nach Bekanntwerden einer höchstrichterlichen Entscheidung werden Verlautbarungen unterschiedlichster Stakeholder des Glücksspielwesens veröffentlicht, die sich widersprechende Interpretationen der betreffenden Entscheidung feilbieten. Das jüngste Beispiel bietet das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 4. Februar 2016 in der Rechtssache Ince – immerhin die fünfte Entscheidung des EuGH zum deutschen Glücksspielrecht. Die amtliche Pressemitteilung des EuGH fand sofort auf ISA-GUIDE, gewissermaßen dem schwarzen Brett der Glücksspielbranche, Verbreitung und wurde dort noch am selben Tage von sieben Stakeholdern kommentiert. Die Statements bieten eine faszinierende Bandbreite von Lesarten des Richterspruchs; einige stehen deutlich für die Redensart, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Dabei scheint mancher Betrachter mit Blindheit geschlagen.
Ausgangspunkt der Betrachtung ist das Urteil des EuGH, der feststellt, dass die Sportwetten-Experimentierklausel des § 10a des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages die Unvereinbarkeit des vormaligen Staatsmonopols mit dem freien Dienstleistungsverkehr nicht behoben hat, soweit die alte Regelung unter Berücksichtigung dessen, dass keine Konzessionen erteilt wurden und dass die staatlichen Veranstalter weiterhin Sportwetten veranstalten können, trotz des Inkrafttretens der Reform von 2012 in der Praxis weiter Bestand hat. Dieses Judikat des EuGH kann keinen verständigen Beobachter verwundern, der die vorhergehende Rechtsprechung des EuGH in seinen Urteilen vom 8. September 2010, der nachfolgenden Bewertung durch das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen vom 24. November 2010 und schließlich den unanfechtbaren Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Oktober 2015 in den Blick nimmt. In der Zusammenschau dieser Gerichtsentscheidungen ergibt sich, dass die Länder mit dem Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag von 2011 das im Glücksspielstaatsvertrag von 2007 noch enthaltene, aber unionsrechtswidrige Sportwettenmonopol zwar mit der Sportwetten-Experimentierklausel korrigieren wollten, an dieser Aufgabe aber auf halbem Wege gescheitert sind, weil privaten Anbietern bis heute keine Erlaubnis erteilt werden konnte, während das staatliche Oddset mit einem inzwischen marginalisierten Marktanteil als einziges Sportwettenangebot behördlich erlaubt ist im Sinne des § 284 StGB. Es gilt 2016 wie schon 2010 der Anwendungsvorrang des Unionsrechts mit der Konsequenz, dass ihm entgegenstehendes nationales Recht nicht angewendet werden kann – einschließlich strafrechtlicher Sanktionsandrohungen.
Dieser Text erschien in voller Länger in der Fachzeitschrift „Beiträge zum Glücksspielwesen“ Ausgabe 1/2016. Diese kann hier im Jahresabo oder einzeln bestellt werden.
Martin Reeckmann ist Rechtsanwalt und geschäftsführender Vorsitzender des Bundesverbandes deutscher Spielbanken, gegr. 2008 als BupriS e.V. (BupriS).