Ein Streitgespräch über wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Implikationen
Wie viele pathologische Spieler gibt es? Machen Anbieter von Glücksspielen ihren Hauptumsatz mit Süchtigen? Welche Form des Glücksspiels macht am süchtigsten? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Tilman Becker von der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim und Dr. Ingo Fiedler von der Universität Hamburg zeigt, dass die Wissenschaft hier nicht immer der gleichen Meinung ist.
Die Anzahl der pathologischen Spieler sowie die Prävalenz-Raten sind in Deutschland für die politische und öffentliche Diskussion eine wichtige Größe. Konkrete Zahlen gibt es jedoch nicht. Verschiedene Erhebungen und Studien kommen hier zu recht unterschiedlichen Ergebnissen, die große Spannen untereinander aufweisen.
Sie haben sich beide wissenschaftlich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Zu welchem Ergebnis kamen Ihre Untersuchungen?
Fiedler: Pathologische Spieler sind ein seltenes Phänomen, wenn die gesamte Gesellschaft betrachtet wird. Das bedeutet zugleich, dass epidemiologische Studien, welche die Verbreitung in der Bevölkerung messen, große Stichproben benötigen, um statistisch valide Aussagen treffen zu können. Dies bedingt relativ hohe Kosten der Studienerstellung.
Trotz dieser Kosten ist die Lage in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern (z. B. auch den USA) relativ gut dokumentiert, nicht zuletzt wegen der alle zwei Jahre durchgeführten Studien der BZgA, die ein recht konstantes Bild zeichnen. Die dokumentierten Werte der letzten fünf Studien lagen zwischen 0,41 und 0,69 Prozent für problematische Spieler und zwischen 0,19 und 0,82 Prozent für pathologische Spieler.
Die Werte anderer Studien weichen mitunter aufgrund methodischer Unterschiede (z. B. beim Klassifizierungsinstrument) ab, jedoch nicht im drastischen Ausmaß. Insgesamt kann auf Basis der Studien von rund 200.000 pathologischen sowie rund 250.000 problematischen Spielern ausgegangen werden.
Deutlich höher liegen naturgemäß die Prävalenzwerte unter den Spielern der einzelnen Spielformen, da nur ein Teil der Bevölkerung überhaupt an den jeweiligen Spielen teilnimmt. Allerdings ist bei Aussagen über einzelne Spielformen die statistische Unsicherheit aufgrund der geringen Grundgesamtheit noch deutlich größer als bei Aussagen über die Gesamtbevölkerung. So hat die BZgA beispielsweise für das Jahr 2013 eine Problemprävalenz unter Spielern an gewerblichen Automaten von 28,6 Prozent festgestellt, was bedeuten würde, dass mehr als jeder vierte Spieler an gewerblichen Automaten ein problematischer oder pathologischer Spieler ist. Bei der Folgeerhebung zwei Jahre später lag der Wert hingegen nur noch bei 13 Prozent. Bei den Ergebnissen zur Prävalenz bei den einzelnen Spielformen bestehen entsprechend große Spannen.
Für die gesamtgesellschaftliche Debatte ist jedoch nicht nur die Prävalenz von Spielsucht von Bedeutung, sondern relevant sind vor allem die Schäden, die die Sucht den Betroffenen, ihrem Umfeld und der gesamten Gesellschaft verursacht.
Becker: Mittlerweile haben wir relativ gesicherte Erkenntnisse über die Häufigkeit eines problematischen und pathologischen Spielverhaltens in der Bevölkerung. Wir können auch einschätzen, wie exakt diese Angaben sind.
Weniger wissen wir über die Häufigkeit eines pathologischen Spielverhaltens unter den Spielern einer bestimmten Spielform. Die Angaben der BZgA sind hier kaum aussagefähig, da sich nur auf ganz wenige Spieler gründen. Herr Fiedler hat hier bereits die Zahlen der BZgA-Studien genannt. Auch hier kann ich nur ergänzen, dass hinter diesen beiden genannten Prozentangaben jeweils 19 bzw. 44 Personen von etwa 10.000 stehen, die sich durch ein problematisches oder pathologisches Spielverhalten auszeichnen.
Wenn die Klienten von Suchthilfeeinrichtungen bzw. deren Therapeuten nach der Glücksspielform gefragt werden, die hauptsächlich zu den Problemen geführt hat, so benennen nach vorliegenden Untersuchungen, die allerdings schon etwas älter sind, 63,5 Prozent der Klienten bzw. 69,0 Prozent der Theraputen (Becker 2009) das Automatenspiel an Geldspielgeräten an erster Stelle. Einige Suchthilfereinrichtungen kommen hier aktuell mit 86,2 Prozent sogar zu noch höheren Zahlen (Thüringer Fachstelle Glücksspielsucht).
Da es in der Regel mehrere Jahre dauert, ehe sich ein pathologisches Spielverhalten entwickelt, kennzeichnen diese Zahlen die Verhältnisse auf dem Glücksspielmarkt vor mehr als zehn Jahren. Mittlerweile haben Sportwetten und Online-Casinospiele an Bedeutung auf dem Glücksspielmarkt gewonnen. Dies wird sich mit einer erheblichen Zeitverzögerung auch bei den Klienten in Suchthilfeeinrichtungen widerspiegeln.
Angesichts der Ziele des Glücksspielstaatsvertrags und insbesondere angesichts des Differenzierungsgebots ist eine Bewertung des Suchtgefährdungspotenzials unterschiedlicher Glücksspielformen von herausgehobener Bedeutung. Das Kleine und Große Spiel im Casino, Poker, Geldspielgeräte, Sportwetten bei den derzeit nicht legalen Anbietern und natürlich das Internet-Casinoangebot sind mit einem signifikanten Suchtgefährdungspotenzial verbunden. Hingegen ist das Suchtgefährdungspotenzial bei den derzeit angebotenen Lotterien, mit der Ausnahme von Keno, sehr gering ausgeprägt. Hierüber sind sich alle Wissenschaftler einig. Dies ist bei den politischen Vorgaben für Maßnahmen zur Suchtprävention zu berücksichtigen.
Dieser Beitrag erschien in voller Länge in der Fachzeitschrift „Beiträge zum Glücksspielwesen“ Ausgabe 1/2018. Diese kann hier im Jahresabo oder einzeln bestellt werden.
Prof. Dr. Tilman Becker ist Geschäftsführender Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Glückspielmarkt und zur Glücksspielregulierung.
Dr. Ingo Fiedler ist Post Doc Researcher im Arbeitsbereich „Glücksspiele“ an der Universität Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben dem Glücksspiel auch die Mikro- und Verhaltensökonomik, Blockchain und Wirtschaftskriminalität.