Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen verwaltungsgerichtliche Eilentscheidungen über die Einstellung von Spielhallenbetrieben
(Verfassungsgerichtshof BW). 1 VB 98/19 und 1 VB 156/21. Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat mit heute verkündetem Urteil über zwei Verfassungsbeschwerden von Spielhallenbetreiberinnen gegen verwaltungsgerichtliche Eilentscheidungen entschieden.
Die angegriffenen Beschwerdeentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht auf einen chancengleichen Zugang zu einer begrenzt zugänglichen beruflichen Tätigkeit aus Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
Mit ihren Verfassungsbeschwerden wenden sich die Beschwerdeführerinnen gegen die versagte Gewährung von Eilrechtsschutz. Im Verfahren 1 VB 98/19 wird im Wesentlichen beanstandet, dass dem Betrieb die Unterschreitung des Mindestabstands von 500 m (§ 42 Abs. 1 LGlüG) zu solchen Spielhallen entgegengehalten wurde, denen zuvor befristete Härtefallerlaubnisse erteilt worden waren, ohne dass die Behörden ein verfassungsrechtlich gebotenes Auswahlverfahren zwischen räumlich konkurrierenden Spielhallen durchgeführt hätten. Beide Verfassungsbeschwerden richten sich dagegen, dass den Betrieben im Wege der sogenannten Zäsur-Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg die Unterschreitung des Mindestabstands zu Kinder- und Jugendeinrichtungen (§ 42 Abs. 3 LGlüG) vorgehalten wird, obwohl sie nach Auffassung der Beschwerdeführerinnen der insoweit privilegierenden Übergangsregelung für Altspielhallen unterfallen (vgl. § 51 Abs. 5 Satz 5 LGlüG).
Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs
Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig sind, erweisen sie sich als begründet. Die Beschwerdeentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem Recht auf einen chancengleichen Zugang zu einer begrenzt zugänglichen beruflichen Tätigkeit aus Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
1. Für Konkurrenzsituationen zwischen Spielhallenbetreibern ist das aus Art. 2 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG folgende Recht auf einen chancengleichen Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit maßgeblich. Wenn mehrere Spielhallenbetreiber um die Erteilung einer Spielhallenerlaubnis wegen des Mindestabstands von 500 m (§ 42 Abs. 1 LGlüG) räumlich konkurrieren, ist eine den grundrechtlich geschützten Interessen gerecht werdende Auswahlentscheidung erforderlich.
2. Im Verfahren 1 VB 98/19 liegt der Verfassungsverstoß in der gerichtlichen Billigung des behördlichen Vorgehens, vor Durchführung des Auswahlverfahrens bezogen auf jede einzelne Spielhalle das Vorliegen eines Härtefalls nach § 51 Abs. 5 Satz 1 LGlüG zu prüfen und Spielhallen, bei denen ein Härtefall angenommen worden ist, sodann ohne ein weiteres Auswahlverfahren den Vorzug vor solchen ohne eigene Härtefallerlaubnis einzuräumen. Die Erteilung einer Härtefallerlaubnis zugunsten der mit der Beschwerdeführerin im Wettbewerb stehenden Betreiberin entbindet nicht von der verfassungsrechtlich gebotenen Durchführung eines Auswahlverfahrens zwischen Konkurrenzspielhallen. Die auf Vertrauensschutzaspekten beruhende
Entscheidung über Härtefallanträge folgt anderen Grundsätzen als die Auswahlentscheidung zwischen Spielhallen, die zueinander den Mindestabstand nach § 42 Abs. 1 LGlüG nicht einhalten. Die Bevorzugung von Härtefallerlaubnissen führt zudem zu einer nicht mit der Neuregulierung des Glücksspielrechts zu vereinbarenden Privilegierung von Bestandsschutzinteressen.
3. Die Beschwerdeentscheidungen verletzen auch insoweit das Recht beider Beschwerdeführerinnen auf einen chancengleichen Zugang zu einer begrenzt zugänglichen beruflichen Tätigkeit, als sie ihnen ohne hinreichenden Grund den in § 51 Abs. 5 Satz 5 LGlüG eingeräumten Vertrauensschutz gegenüber der Anwendung des Abstandsgebots zu Kinder- und Jugendeinrichtungen (§ 42 Abs. 3 LGlüG) versagen und deren Spielhallen damit von vornherein von der Teilnahme an dem im Hinblick auf § 42 Abs. 1 LGlüG durchzuführenden Auswahlverfahren ausschließen.
§ 51 Abs. 5 Satz 5 LGlüG normiert aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Privilegierung von Altspielhallen gegenüber Neuvorhaben. Neuvorhaben sind uneingeschränkt an die seit Inkrafttreten des Landesglücksspielgesetzes geltenden Vorgabe gebunden, dass Spielhallen einen Mindestabstand zu Einrichtung zum Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen einzuhalten haben. Bei der Neuordnung des Glückspielrechts hat sich der Landesgesetzgeber mit der Einführung von § 51 Abs. 5 Satz 5 LGlüG entschieden, die bisherige Rechtsposition von Altspielhallen grundsätzlich zu konservieren – und zwar ohne
Einführung einer Fristenregelung, wodurch er eine zeitlich unbegrenzte Privilegierung von Alterlaubnisinhabern hinsichtlich § 42 Abs. 3 LGlüG durchaus in Kauf nimmt.
Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, der durch § 51 Abs. 5 Satz 5 LGlüG vermittelte Schutz in das Vertrauen in die frühere Rechtslage ohne Mindestabstandsgebot bestehe nur im Falle einer „nahtlosen
Fortschreibung“ der Erlaubnis, ist verfassungsrechtlich vertretbar. Wird erst nach Ablauf einer glücksspielrechtlichen Erlaubnis bzw. nach Ablauf der Antragsfrist deren Neuerteilung beantragt, können sich die jeweiligen Betreiber im Zeitpunkt des Antrags nicht mehr auf einen aktuellen und in die Zukunft wirkenden Vertrauenstatbestand in Gestalt einer wirksamen Genehmigung berufen.
Verfassungsrechtlich unhaltbar ist jedoch die Bedeutung, die der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in diesem Kontext behördlichen Duldungen und deren Fehlen zukommen lässt. Er nimmt an, das schutzwürdige Vertrauen auf die Fortgeltung der bisherigen Rechtslage entfalle auch dann, wenn nach Versagung oder Ablauf einer glücksspielrechtlichen (Härtefall-
) Erlaubnis oder Duldung keine ausdrückliche (weitere) behördliche Duldung des Spielhallenbetriebs erteilt werde; sei dies der Fall, müssten Betroffene für deren Erlangung rechtzeitig um gerichtlichen Eilrechtsschutz ersuchen. Unterbleibe dies, entfalle das Vertrauen in die Weitergeltung der alten Rechtslage, weil dann keine „nahtlose Fortschreibung“ der innegehabten Erlaubnis mehr möglich sei. Damit schreibt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg behördlichen Duldungen eine Bedeutung zu, die den vom Gesetzgeber bewusst geschaffenen Regelungsgehalt der Übergangsregelung verkennt und in deren Wortlaut keinerlei Bezug findet. Er schafft dadurch einen Differenzierungsgrund für das Bestehen der Privilegierung, der jeder einfach-rechtlichen Anknüpfung entbehrt. Beantragen Betreiber rechtzeitig eine Erlaubnis, haben sie das ihnen Mögliche getan, um eine Fortschreibung zu erreichen. Ob sie auch um Eilrechtsschutz ersuchen, ist lediglich von Bedeutung für die Frage des tatsächlichen Weiterbetriebs der Spielhalle und liegt damit in deren unternehmerischen Ermessen.
Mit seiner Zäsur-Rechtsprechung übersteigert der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg auch die Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes unter Aushöhlung des Hauptsacheverfahrens. Denn in letzter Konsequenz kommt die Aufgabe der endgültigen Klärung der Rechtslage nicht mehr dem Hauptsacheverfahren zu; vielmehr wird diese auf das Eilrechtschutzverfahren vorverlagert, dessen Funktion sich jedoch grundsätzlich in einer vorläufigen Sicherung von Rechtspositionen erschöpft.
Anhang:
Auszug aus dem Landesglücksspielgesetz (LGlüG) vom 20. November 2012
§ 41 LGlüG
(1) Der Betrieb einer Spielhalle bedarf der Erlaubnis nach diesem Gesetz, die
die Erlaubnis nach § 33i der Gewerbeordnung ersetzt und die Erlaubnis nach
Artikel 1 § 24 Absatz 1 Erster GlüÄndStV mit umfasst…
(2) Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn …
1. …
2. die Voraussetzungen nach § 42 nicht erfüllt sind,
…
§ 42 LGlüG
(1) Spielhallen müssen einen Abstand von mindestens 500 m Luftlinie,
gemessen von Eingangstür zu Eingangstür, untereinander haben.
(2) …
(3) Zu einer bestehenden Einrichtung zum Aufenthalt von Kindern und
Jugendlichen ist ein Mindestabstand von 500 m Luftlinie, gemessen von
Eingangstür zu Eingangstür, einzuhalten.
§ 51 LGlüG
…
(3) § 33i der Gewerbeordnung ist für die Erteilung von Erlaubnissen für
Unternehmen nach § 40 Satz 1 letztmals bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes
anzuwenden. …
(4) Für den Betrieb einer bestehenden Spielhalle, für die bis zum 18. November
2011 eine Erlaubnis nach § 33i der Gewerbeordnung beantragt und in der Folge
erteilt wurde, ist nach dem 30. Juni 2017 zusätzlich eine Erlaubnis nach § 41
erforderlich. …
(5) … § 42 Abs. 3 gilt nur für Spielhallen, für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
dieses Gesetzes eine Erlaubnis nach § 33i der Gewerbeordnung noch nicht
erteilt worden ist.
Der Verfassungsgerichtshof
Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg entscheidet im Rahmen gesetzlich geregelter Verfahren über die Auslegung der Landesverfassung. Die Entscheidungen ergehen regelmäßig durch neun Richterinnen und Richter. Drei Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs sind Berufsrichter. Drei Mitglieder müssen die Befähigung zum Richteramt haben. Bei drei weiteren Mitgliedern liegt diese Voraussetzung nicht vor. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet unter dem Vorsitz seines Präsidenten. Die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofs sind ehrenamtlich tätig